Die Macht der #Plattformen

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Interview vom 17. Mai 2022, von Jonas Sackmann, Foto: Steffi Roßdeutscher

Der Medienwissenschaftler, Autor und Blogger @Michael Seemann entwickelt in seinem Buch Die Macht der Plattformen – Politik in Zeiten der Internetgiganten eine eigene Theorie der Plattformen. Im Interview befassen wir uns mit der Macht von Plattformen und sprechen anhand von aktuellen Entwicklungen über die Gefahren in den sozialen Medien. Wie viel sollte die Politik regulieren, wie viel Moderation von Plattformen braucht es und an welcher Stelle müssen wir als Nutzer:innen selbst Verantwortung übernehmen?

[J.S.] In Ihrem Buch entwickeln Sie eine eigene Plattformtheorie? Was sind #Plattformen? Sie sprechen hierbei von einer ganz eigenen Kategorie.

[M.S.] Für mich sind Plattformen eine spezifische Form von Sozialer Organisation. Sie stehen damit in gewisser Hinsicht neben anderen Formen sozialer Organisation, wie zum Beispiel dem Staat, Vereinen, Parteien, Unternehmen, aber auch solchen Dingen wie dem Markt.

Plattformen haben bestimmte Eigenschaften dieser anderen Kategorien, aber nie ganz vollständig. Und deswegen würde ich sagen: Es ist eine ganz eigene Form #SozialerOrganisation. Das ist erst mal eine wichtige Feststellung, die ich am Anfang mache, um dann genauer zu definieren, wie diese Form sozialer Organisation beschaffen ist. Ich analysiere verschiedene andere Plattformdefinitionen und versuche daraus dann wiederum eine allgemeine, etwas abstrakte Form abzuleiten, die lautet: Plattformen sind erwartete Vorselektionen potenzieller Verbindungen, die unerwartete Anschlussselektionen konkreter Verbindungen wahrscheinlicher machen.

Wenn man das ganze verständlich herunterbrechen will – natürlich auch nicht mehr ganz so richtig, aber trotzdem vielleicht noch richtig genug – kann man sagen, dass Plattformen Verbindungen organisieren. Das heißt also, Plattformen sind Institutionen oder Entitäten, über die andere Leute sich miteinander vernetzen.

[J.S.] Was können sie uns zum #Ursprung des Begriffs der Plattform sagen? Und was ist von diesem historischen Begriff heute noch geblieben?

[M.S.] Die ursprüngliche Wortbedeutung kommt aus dem Altfranzösischen und ist ein zusammengesetzter Begriff aus zwei Worten, nämlich platt, also flach und forme, also eine flache Form. Und tatsächlich war das im Kontext von militärischen Beschreibungen, nämlich dort, wo bestimmte flache Aufstockungen gemacht worden sind, um dort Katapulte und später Kanonen drauf zu platzieren. Diese Aufschüttung, diese flachen Ebenen, hatten eben den Vorteil, dass sie einerseits natürlich eine Erhöhung sind gegenüber der normalen Landschaft, aber auch eben durch diese Ebenerdigkeit die Möglichkeit bot, die Katapulte oder Kanonen schnell auszutauschen oder nachzuladen.

Und tatsächlich finden beide Eigenschaften, die #Erhebung, also von der Grundlandschaft sich abhebend, und der Austausch, eigentlich immer bei Plattformen statt. Das heißt also, man ist herausgehoben gegenüber einer sonstigen Ökologie. Und die Austauschbarkeit ist genau das, was eben diese Möglichkeiten der Verbindungen so viel wahrscheinlicher macht oder so stark ermöglicht. Diese #Austauschbarkeit – und da führen wir schon sozusagen in die nächste Frage – ist natürlich auch eine Machtfrage, denn alles, was austauschbar wird, verliert Macht und alles, was nicht austauschbar ist, kann Macht behalten.

Stellen wir uns vor, ich bin ein Mitarbeiter in einer Firma, der ein bestimmtes Wissen hat und deswegen nicht austauschbar ist. Dann habe ich mehr Macht, als wenn ich ein ungelernter Arbeiter bin, der eben schnell austauschbar ist gegen einen anderen ungelernten Arbeiter. Das heißt also, wir sind hier schon in einem Bereich der Machtkontrolle in dieser Konstellation.

[J.S.] Sie schreiben von verschiedenen Machtformen von Plattformen, unter anderem Wirtschaftsmacht, Marktmacht und Datenmacht – darunter können sich die meisten noch gut etwas vorstellen – bei politischer Macht muss man wahr­scheinlich schon ein bisschen überlegen, was das konkret heißt, aber sie sprechen auch explizit von #Plattformmacht?

[M.S.] Ich entwickle tatsächlich einen eigenen Begriff der Plattformmacht. Dieser gründet sich aus der Macht von Beziehungen und Abhängig­keiten. Wenn ich auf einer Plattform bin, dann bin ich dort meistens aus einem bestimmten Grund oder aus mehreren Gründen. Beispielsweise bin ich auf WhatsApp, weil dort die meisten Leute sind, die ich kenne, mit denen ich kommunizieren will. Oder ich bin auf Uber, weil ich dort möglichst schnell in meiner Stadt ein Fahrzeug herrufen kann. Oder ich bin bei Amazon, weil ich dort die Produkte kriege, die ich haben will.

Es gibt immer eine bestimmte Motivation, auf einer Plattform zu sein. Und diese Motivation leitet sich eben genau daraus ab, dass die Beziehungen, in die ich eintreten will, sich auf dieser Plattform abbilden. Das macht die Leute, die dort auf dieser Plattform sind, in gewisser Hinsicht per se immer austauschbarer. Wir kennen das zum Beispiel bei Amazon Marketplace. Ich kann das gleiche Produkt bei dem einen Händler als auch bei dem anderen Händler bestellen. Aber alles funktioniert eben über den Marketplace. Das heißt also, diese unterschiedlichen Abhängigkeiten werden plötzlich zu einer Abhängigkeit, nämlich der #Abhängigkeit zu Plattformen. Und das ist im Endeffekt das, was man in den Wirtschaftswissenschaften schon länger unter dem Begriff der Netzwerkeffekte oder der Network Externalites beschreibt. Das, was ich eben auch Netzwerkmacht nenne.

Diese Netzwerkmacht wird aber erst zur Plattformmacht, wenn auch noch bestimmte Hebel der #Kontrolle hinzukommen. Also beispielsweise hat ja eine Sprache auch Netzwerkmacht. Ich will eine bestimmte Sprache lernen, um mit anderen, die diese Sprache sprechen, in Kontakt zu treten. Das ist eigentlich die Hauptmotivation, eine Sprache zu lernen. Und Englisch hat eine höhere Netzwerkmacht als beispielsweise Kirgisisch – aus denselben Gründen, warum wir WhatsApp nutzen statt Signal. Der Unterschied ist nur, dass eine Sprache keine Hebel hat, mich von der Sprache auszuschließen. Also eine Sprache kann nicht einfach sagen: »Michael Seemann als Sprecher, den möchte ich hier aber nicht haben.«, und mich von dieser Sprache ausschließen. Eine Plattform kann das in vielen Fällen. Die meisten Plattformen, mit denen wir interagieren, können uns von der Nutzung ausschließen.

Anderes Beispiel: Viele der digitalen Plattformen haben bestimmte Algorithmen zur Sichtbarmachung von bestimmten Auswahlmöglichkeiten, seien es Freundschaften, seien es Nachrichten, seien es Produktempfehlungen. Das ist natürlich ein Hebel, über den eine Plattform Kontrolle ausüben kann. Sie können noch über andere Dinge Kontrolle ausüben. Beispielsweise darüber, dass sie das Interface kontrollieren: welchen Button mache ich groß, wie ordne ich die an und so weiter. Es gibt viele Hebel, die eine Plattform hat, um Kontrolle auszuüben und erst wenn beides zusammen kommt, also die Netzwerkmacht auf der einen Seite und die Kontrolle auf der anderen Seite, spreche ich von Plattformmacht.

[J.S.] In ihrem Buch gehen Sie auch auf das Beispiel Napster ein – das müsste man wahrscheinlich für die jüngeren Leser:innen, die das vielleicht nicht mehr kennen, erklären. Aber hier wird anschaulich, wie denn so eine #Plattformmacht eine komplette Industrie quasi ins Chaos stürzen kann. Können sie das vielleicht noch mal etwas erläutern?

[M.S.] Napster kam in den späten 90er Jahren, ich glaube sogar direkt 1999 auf. Es war ein Programm, das man sich für den PC installieren konnte. Damals gab es ja noch keine Smartphones, sondern man nutzte das Internet immer über den PC. Es war noch relativ neu und revolutionär, dass man Musik mit der MP3 per Rechner hören konnte. Aber auf jeden Fall konnte das Programm indizieren, welche Art von Musik man auf dem Rechner hatte, das an den Server von Napster leiten und dort entstand dann eine zunehmend vollständige Datenbank aller möglichen Musiktitel, die Menschen auf ihrer Festplatte hatten. Man kann sich denken, es brauchte nicht so viele Nutzer und Nutzerinnen, bis diese Datenbank relativ vollständig war. Und dann wurde Napster relativ schnell zu einer riesigen Musikdatenbank, die den Vorteil hatte, dass wenn ich auf einen Song geklickt habe, den ich gesucht habe, diesen Song direkt von demjenigen, der diesen Song auf seinem Rechner hatte, runterladen konnte. Also „Peer To Peer“ von einem Computer auf den anderen. Die Magie des Internets sozusagen. Was natürlich die Musikindustrie nicht so wahnsinnig lustig fand, weswegen sie alle Mittel und Hebel in Bewegung setzte, Napster aus dem Netz zu klagen, was ihr ja am Ende dann auch gelang.

Ich finde Napster ist aber tatsächlich ein sehr gutes und anschauliches Beispiel für Plattformen und Plattformmacht, wie sie ja auch gerade schon angedeutet haben. Auf der einen Seite ist es natürlich eine sehr krasse Demonstration der Plattformmacht, vor allem wo sie damals noch nicht erwartet war. 99 sprach noch niemand von Plattformen, da gab es noch keine Idee von Plattformen und entsprechend auch noch keine Vorbereitung darauf, was dort kommen könnte. Auf der anderen Seite ist es ein früher Vorläufer einer Form von Plattform, die dann sehr dominant werden sollte, die heute sehr dominant ist, nämlich die sogenannte #Diensteplattform. Das sind Plattformen, die über zentralisierte Datenserver ihre Funktionen bewerkstelligen, wie bei Facebook, Airbnb oder die meisten anderen Plattformen, die wir heute nutzen.

Es gibt natürlich nicht nur Diensteplattformen, sondern auch Schnittstellenplattformen, wie beispielsweise Betriebssysteme oder Programmier-Frameworks. Und dann gibt es auch noch die Protokollplattformen wie beispielsweise das Internet selbst, also die Protokolle des Internets, die Protokolle von E-Mail oder von dem „www“ und andere Protokolle.

[J.S.] Wenn wir jetzt mal den Sprung auf die gesellschaftliche Ebene machen und in die Politik schauen, was würden Sie sagen, welche #Gefahren gehen von Plattformen für unsere Demokratien aus? Was bedeutet das auch für die Öffentlichkeit und für den Diskurs?

[M.S.] Auf der einen Seite haben wir hier eine neue Form von sozialer
Organisation, die eben erst gerade zu sich selbst findet. Und wir merken das auch an den kontroversen Debatten darum, wie beispielsweise auf Plattformen moderiert werden soll und was moderiert werden soll.

Es gibt jetzt gerade ein neues Gesetz in Texas, dass zum Beispiel Plattformen verbieten will, überhaupt zu moderieren. Von der EU gibt es gerade eine Gesetzesnovelle, die versucht, eine sehr starke Moderation für große Plattformen verpflichtend zu machen. Also wir haben da sehr, sehr unterschiedliche und teilweise sehr widersprüchliche Vorstellungen davon, wie diese Plattformen funktionieren sollen als #Gemeinwesen. Und das ist natürlich die eine Sache, dass es einfach so eine Ungleichzeitigkeit gibt. Dann gibt es natürlich auch einfach grundsätzliche Erwägungen, die ich mache. Beispielsweise, dass natürlich diese Plattformen auch zu ganz anderen Formen von Politik führen und in gewisser Hinsicht auch in Konkurrenz zu den Arten und Weisen, wie wir Politik bisher machen, stehen. Wir kennen das ja in erster Linie als nationalstaatliche Politik, wo wir eben Parlamente und Parteien haben. Und das funktioniert natürlich auf Plattformen nur sehr bedingt.

Plattformen haben dafür andere Formen von Politik sehr starkgemacht. Beispielsweise Hashtag-Kampagnen, Aktivismus und andere Dinge, aber auch solche Sachen wie Verschwörungstheorien, Ad hoc Spaziergänge, und so weiter und so fort. Sowohl auf der linken als auf der rechten Seite gibt es alle möglichen #Bewegungen, die sich durch Plattformen und mit Plattformen eine neue Form von politischer Wirksamkeit erstritten haben, die dann wiederum die alten Formen der Politik immer wieder auch in Bedrängnis bringen und immer wieder mal alt aussehen lassen – im wahrsten Sinne des Wortes.

[J.S.] Jetzt sind wir schon bei konkreten Themen, wie Desin­for­mation oder auch einzelne Politiker und Akteure, die ver­suchen zu manipulieren und Falschnachrichten zu ver­breiten. Wie geht man damit um? Sollte hier von politischer Seite ­mehr #Regulation stattfinden oder von den Platt­­formen selbst eine stärkere #Moderation stattfinden?

[M.S.] Das ist eine schwierige Frage. Wie gesagt, da wird gerade auch viel darüber gestritten. Ich habe dazu natürlich auch eine Meinung und die kann ich gerne kundtun. Ich würde aber sagen, dass meine Meinung in der Hinsicht auch nicht der Weisheit letzter Schluss ist.

Zunächst einmal muss man feststellen, dass alle Plattformen moderieren. Also es gibt praktisch keine Plattform, die komplett unmoderiert ist, weil das gar nicht funktionieren würde. Es würden die Leute in Scharen weglaufen, weil wenige wirklich üble Stressmacher natürlich immer reichen, um das Erlebnis für alle anderen zur Hölle zu machen. Deshalb ist tatsächlich die Moderation, oder wie ich es auch im Buch nenne, #Netzinnenpolitik, immer ein ganz wesentlicher Bestandteil von Plattformen. Die Frage ist natürlich nun, wie stark diese Regulierung sein soll und was da reguliert werden soll. Und das ist eine sehr, sehr schwierige Frage, die teilweise auch sehr delikate „Edge Cases“, also Grenzfälle hat, über die man immer wieder streiten kann und auch streiten muss. Es gab natürlich, finde ich, sehr gute Gründe, den US-Präsidenten @Donald Trump damals aus Twitter und Facebook auszuschließen, weil er auch einfach ganz konkret gegen Gemeinschaftsstandards verstoßen hat.

Auf der anderen Seite kann man natürlich auch mit einem gewissen Recht sagen, was fällt einer Plattform ein, einem demokratisch legitimierten Politiker die Plattform zu entziehen und seine Möglichkeit zu kommunizieren einzuschränken, ohne dass es da eine Art von Legitimationsprozess gibt. Das sind Fragen, die sind sehr schwierig. Und ich glaube, Plattformen wären da auch ganz froh, wenn da einfach klarere Regeln irgendwann mal kommen. Momentan haben wir das Problem, dass die Regeln eher unklarer werden. Es gibt von der einen Seite diese Regel und von der anderen Seite komplett gegenteilige Regeln. Da sind wir noch in einem sehr interessanten Suchprozess.

Der Digital Services Act, der von der EU als Entwurf vorgelegt worden ist, ist ein ganz guter Ansatz, auch weil er zwischen großen und kleinen Plattformen unterscheidet. Und weil er eben nicht ganz konkret beinhaltet, was jetzt genau reguliert und moderiert werden muss, sondern einfach nur tatsächlich die Plattformen verpflichtet, Risikoeinschätzungen zu machen und auch aktiv zu sein in der Moderation hinsichtlich dieser Risikoeinschätzungen.

Das Problem ist natürlich auch gerade was Social-Media-Plattformen angeht, dass wir einen relativ geringen Spielraum haben, gesetzlich freie Rede einzuschränken, was ja eine gute Sache ist. Also es gibt tatsächlich nur relativ wenige Schranken, wo gesetzliche Regelungen greifen, wenn es darum geht, bestimmte Arten von Rede unter Strafe zu stellen. Und mir persönlich würde es auch missbehagen, wenn wir diese Regeln ausweiten würden.

Nehmen wir mal das Beispiel #FakeNews oder #Desinformation. Es gibt keine Gesetze dagegen zu lügen. Also, man darf lügen. Es ist nicht verboten zu lügen und ich würde sehr vorsichtig sein, ein Gesetz einzuführen, das verbietet zu lügen. Oder nehmen wir rassistische Äußerungen: da gibt es bestimmte Tatbestände im Strafrecht oder auch im Zivilrecht, wo das sanktionierbar ist. Aber in den allermeisten Fällen, auch gerade wie es auf Social-Media geäußert wird, ist Rassismus eigentlich nicht strafbar. Und ich finde auch nicht, dass er strafbar sein sollte. Ich finde, er sollte gesellschaftlich sanktioniert werden. Und das ist momentan auch die Ebene, auf der Plattformen moderieren. Dass sie eben sagen, wir nehmen sexistische, rassistische oder andere gruppenfeindliche Inhalte, die andere Leute als beleidigend empfinden, die aber nicht strafrechtlich relevant sind, trotzdem aus dem Netz, weil sie erstens unnötig sind und zweitens natürlich auch Leute verletzen. Und um den internen Frieden zu bewahren, machen wir das so.

Ich halte das für eine grundsätzlich gute Herangehensweise, wobei natürlich dann andere Leute wiederum sagen: »Moment mal, was fällt dem sozialen Netzwerk ein? Wenn es nicht direkt strafbar ist, dann ist es erlaubt, also muss das ja auf jeden Fall stehen bleiben.« Das ist auch die Idee, die @Elon Musk jetzt verfolgt, wenn er sagt, dass Twitter zu viel moderiert. Und deswegen will er ja Twitter kaufen. Das ist auch ähnlich, mit dem, was die republikanischen Politiker in Texas denken, die eben dieses neue Gesetz dort eingeführt haben. Ich halte das für naiv und gefährlich, das so zu sehen, weil ich glaube, wir kommen nicht dran vorbei, auch gesellschaftliche Standards in Plattformen umzusetzen und abzubilden.

[J.S.] Sie haben gerade schon etwas zur EU-Kommission gesagt. Soweit ich informiert bin, sind da gerade neue Gesetze auf dem Weg. Da wird zum Beispiel über das Digitale Dienste Gesetz gesprochen, indem es auch unter anderem heißt, dass #Algorithmen offengelegt werden sollen?

[M.S.] Ja, also zum Digitalen Dienste Gesetz, oder Englisch dem Digital Services Act kann ich ganz kurz zu der Offenlegung von Algorithmen noch etwas sagen. Das ist ja auch etwas, was @Elon Musk gerne immer wieder vorträgt, was gemacht werden sollte. Das ist eine sehr, sehr technisch herausfordernde Frage, denn diese Algorithmen kann man sich nicht so vorstellen, dass das jetzt 20 Zeilen Code sind und dann versteht man das oder dann kann ein Informatiker erklären, was da jetzt passiert. In aller Regel sind solche Algorithmen heutzutage selbstlernende Algorithmen. Das heißt, es sind sogenannte Deep Neural Networks oder Machine Learning Systeme, die anhand von Trainingsdaten trainiert worden sind und die dann eben nicht mehr so leicht erklärbar sind, im Sinne von welches Kriterium dafür gesorgt hat, dass ein Tweet jetzt besonders sichtbar ist oder nicht.

Tatsächlich steckt die #Intelligenz in solchen Algorithmen heutzutage nicht mehr im Algorithmus selbst, sondern eigentlich in den Daten. Und ohne die Daten und vor allem den Kontext der Daten kann man erst wirklich auch verstehen, wie ein Algorithmus wirkt. Das heißt also, das reine Veröffentlichen der Algorithmen selber wird gar nicht so viel bringen.

Es gibt noch ein paar andere Argumente. Diese Algorithmen sind wahnsinnig schnelllebig. Also zumindest beim Google-Algorithmus wissen wir, dass er alle zehn Minuten geändert wird. Und er ist natürlich auch ein wichtiges Instrument zur Spambekämpfung, weil alle Leute, die ein kommerzielles Interesse haben, sich auf diesen Social-Media-Plattformen in den Vordergrund zu drängen, ständig versuchen, den Algorithmus auszutricksen, zu verstehen und entsprechend zu spamen und zu manipulieren. Deswegen natürlich auch die schnelle Anpassung und teilweise auch die Geheimhaltung.

Das heißt jetzt nicht, dass man das nicht machen oder probieren sollte. Eventuell gibt es dort Möglichkeiten und eventuell gibt es dort auch sinnvolle Ansätze, das vor allem so zu machen, dass viele Leute das verstehen. Ich persönlich halte eine andere Vorgehensweise für besser, für relevanter, nämlich die Möglichkeit zu schaffen, dass Plattformen auch #ExterneAlgorithmen implementieren können. Wenn Plattformen beispielsweise einen Algorithmus zum Sortieren des Newsfeeds anbieten, dann sollten sie auch verpflichtet werden, anderen Anbietern zu ermöglichen, einen alternativen Algorithmus anzubieten, den man sich als Nutzer oder Nutzerin dann schnell mal reinklicken kann. So wie man zum Beispiel auch eine andere Suchmaschine nutzen kann als Google.

Das wäre dann zwar nicht eine völlige Transparenz, aber es hätte mehrere Effekte. Der eine wäre, dass man eben eine Auswahl hätte und selbst Leute, die keine Ahnung von Programmieren und Algorithmen haben, können dann gucken, welche Ergebnisse oder welche Sortierungen ihren Interessen mehr entsprechen. Es gibt also sozusagen eine Auswahl, die auch inkompetente Menschen, im Sinne von Code-inkompetente Menschen, plötzlich ermächtigt, dort wirksam zu werden. Und zweitens würde es auch die Algorithmen-Hersteller der Plattformen selber disziplinieren, weil sie natürlich dann auch in Konkurrenz stehen zu anderen Algorithmen-Anbietern. Das beschränkt natürlich dann ihre Möglichkeiten, einfach alles zu tun, was ihnen nützt. Das halte ich für eine gangbare und eventuell unterm Strich auch erfolgreichere Einhegung dieser Form von Macht bei den Plattformen.

[J.S.] Das Thema finde ich sehr interessant, weil es ja inhaltlich im Magazin auch insbesondere um das Thema Filterblasen und #Lebensrealitäten, die von Algorithmen gesteuert werden geht. Wäre neben der Auswahl verschiedener Algorithmen auch die Option denkbar, dass man aktiv in die #Filter eingreifen könnte und bestimmte Dinge als User:in selbst auswählen kann?

[M.S.] Grundsätzlich ist es natürlich immer gut, den Leuten Tools in die Hände zu geben, um ihre eigene algorithmische Weltsicht oder Sicht auf die Welt selber zu bestimmen. Da bin ich auch ein großer Fan von. Ich nenne das Konzept auch #FilterSouveränität, also dass Leute souverän über ihre Filter werden.

In gewisser Hinsicht gibt es das natürlich bereits. Also beispielsweise kann ich im Facebook-Newsfeed für jeden einzelnen Account, den ich dort sehe, sagen: »Den will ich weniger sichtbar haben, oder den will ich mehr sichtbar haben.« Ich kann natürlich auf Twitter oder anderen Seiten Leuten folgen oder weniger folgen oder auch blockieren. All das sind natürlich Möglichkeiten, wie ich meine algorithmische Weltsicht auch mitbestimmen kann. Und mehr Tools dafür zur Verfügung zu stellen, halte ich für eine grundsätzlich erstmal gute Idee. Es lassen sich da zum Beispiel auch solche Sachen denken wie irgendwelche Schieberegler: Ich möchte mehr von diesen Thematiken sehen, weniger von diesen, und so weiter und so fort. Da kann man sicherlich auch noch was machen.

Die Frage ist, inwieweit das Ganze angenommen wird, in einem größeren Maßstab. Da bin ich noch ein bisschen skeptisch, weil die meisten Leute sehr faul sind, was ihre eigenen Möglichkeiten der Einstellungen wiederum angeht. Das ist immer ein bisschen ernüchternd, wenn man sich anschaut, wie wenig sowas dann auch genutzt wird. Leute beschweren sich: »Mein Newsfeed ist so voller Müll …«, und dann frage ich mich halt immer, was tust du denn, um den auch zu säubern? Es gibt eine ganze Menge Möglichkeiten den zu säubern und ich verstehe immer nicht, dass die Leute die nicht nutzen.

Ja, also ich bin grundsätzlich für mehr Möglichkeiten, mehr individuelle Einstellmöglichkeiten und befürworte das. Aber ich bin ein bisschen pessimistisch, was den größeren Impact solcher Dinge auf die allgemeine Nutzungserfahrung angeht.

[J.S.] Aber es wäre tatsächlich die Frage, ob man in der Hinsicht die Masse sensibilisieren könnte oder ob man auch im Bereich #Medienbildung eine stärkere Aufklärung betrei­ben müsste.

[M.S.] Es wäre definitiv Teil einer Medienkompetenz-Schulung, die ich machen würde, wenn ich sie machen würde.

[J.S.] Noch mal zu einer konkreten Idee aus ihrem Buch, dass eventuell auch der #Staat selbst als Plattformbetreiber auftreten könnte und dass das vielleicht den einen oder anderen Vorteil haben könnte.

[M.S.] Genau, das sehen wir ja jetzt auch schon in Ansätzen, dass der Staat immer mehr auch eigene IT-Infrastruktur Projekte fördert oder tatsächlich selbst entwickelt. Und das ist eine grundsätzlich positive Sache. Der Staat ist aus gutem Grund schon immer auch als Anbieter von #Infrastruktur in der Gesellschaft aktiv. Wir denken an Straßen, wir denken an Feuerwehr, wir denken an Polizei. Das ist alles Infrastruktur und ich glaube, dass Infrastruktur ein öffentliches Gut ist. Und für so ein öffentliches Gut sollte es auch nicht-kommerzielle Möglichkeiten geben, solche Sachen zu betreiben. Und da ist natürlich der Staat die logische Instanz.

Man kann viele dieser Projekte, die der Staat die letzten Jahre gemacht und versucht hat, belächeln. Und da gibt es auch noch viel Potenzial, was die konkrete Ausgestaltung von solchen Projekten angeht. Aber grundsätzlich halte ich es für total notwendig, dass der Staat sich diese Kompetenzen aneignet, dass er einen sogenannten „Public Stack“, also einen öffentlichen Technologie-Stapel für die Bürger und Bürgerinnen anbietet. Das könnte allen Leuten helfen, sehr viel selbstbestimmter mit Plattformen umzugehen. Einerseits, weil sie sich eben aufteilten, Alternativen des Staates entsprechend einrichten können und darauf aufbauen können. Auf der anderen Seite aber auch, weil das eben die kommerziellen Plattformen in gewisser Hinsicht disziplinieren würde, weil sie Konkurrenz bekommen.

Ich habe da ein paar Ansprüche. Wenn der Staat solche Dinge macht, dann sollte es auf jeden Fall Open Source sein. Public money, public code ist das Motto. Und es sollte natürlich auf diese Art und Weise das Missbrauchspotenzial des Staates selber wiederum einschränken. Denn wir alle wissen, dass der Staat natürlich auch ganz eigene Begehrlichkeiten hat, wenn es ums Digitale geht. Man sollte durch die #Transparenz des Codes alle Möglichkeiten ausnutzen, um den Staat einzuschränken, seinen eigenen Begehrlichkeiten nachzugehen.

[J.S.] Was können wir sonst noch als #Nutzer:innen tun angesichts der mächtigen Plattformen?

[M.S.] Wir haben jetzt viel über Regulierung geredet. Aber die Frage bleibt natürlich, was man als Einzelner machen kann. Als Einzelner ist man erst einmal relativ schwach gegenüber den Plattformen. Wenn es darum geht, welche Abhängigkeitsverhältnisse entstehen, dann ist man eben sehr abhängig von Plattformen, weil man dort die Abhängigkeit von anderen Leuten darüber organisiert. Auf der anderen Seite ist die Plattform aber nicht von einem selbst abhängig. Wenn ich mein Konto bei Plattform X lösche, dann interessiert das die Plattform nicht. Das ist nicht relevant für sie. Selbst wenn man das mit Hunderten oder Tausenden organisiert, wird das die Plattform kaum merken. Das heißt also, wir haben hier ein extremes Ungleichgewicht, weswegen ich immer diese ganzen Kampagnen mit „Delite Facebook“ oder so etwas … es fällt mir schwer, das wirklich politisch ernst zu nehmen, weil da meistens nicht wirklich ein relevanter Impact hergestellt wird, der irgendwie zu irgendetwas Politischem führt.

Ich denke, dass die erste wichtige Lektion daraus sein muss, dass man sich auf jeden Fall zusammenschließen muss. Man kann nicht als Einzelner agieren und auch nicht über eine spontane Organisation, sondern man müsste sich richtig organisieren. Man müsste im Endeffekt von der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts lernen und solche Dinge wie Gewerkschaften gründen.

Eine spezifische Form von Gewerkschaft, die ich in meinem Buch vorschlage, ist die sogenannte Single-Sign-On-Gewerkschaft. #Single Sign-On kennen wir, wenn wir uns zum Beispiel über Facebook-Connect mit anderen Diensten verbinden. Bisher geht das halt immer nur von einem Dienst auf den anderen.

Aber was wäre, wenn wir solche Services zivilgesellschaftlich organisieren würden, wenn es sozusagen eine Form von politischer Partei oder Gewerkschaft, oder einen Hybrid daraus gäbe. Eine Art Plattform-Partei, die diesen Single Sign-On ihren Mitgliedern anbieten würde, aber dann eben auch den Plattformen vorenthalten könnte und sagen würde: »Hey, Moment mal, wir haben hier unsere 500.000 Mitglieder, die alle unseren Wertekodex unterschrieben haben und wollen gerne die Plattformpolitik entsprechend beeinflussen. Und nur wenn die Plattform unseren Bedingungen gegenüber zugänglich ist, lassen wir diesen Single Sign-On auch zu dieser Plattform zu.«

So hätte man halt in gewisser Hinsicht einen Verhandlungshebel und würde nicht immer komplett machtlos gegenüber den Plattformen auftreten. Das wäre meine Lösung dafür.

[J.S.] In welcher Form gibt es diese Zugänge über #SingleSign-On bereits?

[M.S.] Es gibt sie eben kommerziell, aber noch nicht zivilgesellschaftlich. Und das wäre jetzt mein konkreter Vorschlag, zivilgesellschaftliche Organisationen zu machen.

Wir sehen beispielsweise, dass Apple irgendwann vor zwei Jahren oder so diese eigene Single-Sign-On-Lösung entwickelt hat, mit dem Argument, dass man eben nicht mehr Facebook oder Google nutzen müsse, weil das ja gefährliche Datenkraken sind. Und so hat man an sich als Retter der #Privatsphäre oder so etwas inszeniert.

Aber natürlich ist es total naiv zu glauben, dass Apple jetzt für uns die eigenen Interessen gut vertritt. Und dann habe ich darüber nachgedacht, was wäre denn, wenn es einen Single Sign-On gäbe, der tatsächlich meine Interessen vertritt, wo ich auch ein Mitspracherecht habe. Und diese Entitäten, wenn man sie so organisieren könnte oder würde, hätten eben ein ganz anderes Standing gegenüber den Plattformen.