Demokratie und digitale Öffentlichkeit
Essay vom 28. Juni 2022, von Jonas Sackmann
Inhalt
Politische Öffentlichkeit
Demokratie ist für uns identitätsstiftend und verkörpert geradezu ein Gefühl des Zusammenhalts in den westlichen Ländern. Aber es kommt auch immer wieder zu Angriffen auf demokratische Institutionen und Prozesse. Das könnte den Eindruck vermitteln, die Demokratie befände sich in einer Krise.
Insbesondere in den digitalen Medien werden Desinformation und demokratiefeindliche Inhalte verbreitet. Ernsthafte Debatten, die etwas produktives für unsere politische Öffentlichkeit beisteuern könnten, sind zwischen Hatespeech und rechthaberischen Kommentaren die Ausnahme.
Damit demokratische Völker im eigenen Interesse wirksam werden können, braucht es bestimmte Vorraussetzungen. Der Soziologe Jürgen Habermas prägte in der 1962 veröffentlichten Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit den Begriff der politischen Öffentlichkeit.
Das Wesen der Demokratie zeichnet sich für ihn in der politischen Partizipation der Bürger:innen aus, womit nicht allein die Beteiligung an politischen Wahlen gemeint ist, sondern viel mehr eine Beteiligung am politischen Diskurs. Mündige Bürger:innen sollen ihr Leben selbstbestimmt führen können, in einer Öffentlichkeit, die sich von rationalen Argumenten überzeugen lässt und die wirksamen Kontrollen unterliegt.
@Friedhelm Neidhardt bestimmt drei Funktionen der Öffentlichkeit: Die Funktion der Transparenz soll allen Gruppen, Themen und Meinungen einen offenen Zugang zur Öffentlichkeit ermöglichen. Unter der Funktion der Validierung sollen sich alle Akteur:innen in der Öffentlichkeit mit den Standpunkten anderer befassen und sich gegebenenfalls durch das bessere Argument überzeugen lassen. Die Funktion der Orientierung bedeutet, dass die Öffentlichkeit zum Zweck der allgemeinen Orientierung eine öffentliche Meinung hervorbringt. [3]
Strukturwandel durch digitale Kommunikation
Angesichts der Diskussionen um den Zustand unserer Demokratien kam es in jüngster Zeit erneut zu einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Werk von Habermas. In der Fachzeitschrift Leviathan widmeten sich 2021 zahlreiche Autor:innen und Habermas selbst einer erneuten Überprüfung seiner Theorie und stellten dabei die Frage eines neuen Strukturwandels in den Raum. Untersucht wird dieser im Spannungsfeld zwischen Globalisierung, Digitalisierung und Kommodifizierung . Letzteres beschreibt den Prozess der Kommerzialisierung und des „Zur-Ware-Werdens“, oder auch die Ökonomisierung des Sozialen.
Insbesondere in der Digitalisierung werden die Auswirkungen von Desinformation auf den demokratischen Diskurs sichtbar. Es zeigt sich ein Wandel der Verbreitungsmedien, der zu einer Transformation hin zu einer digitalen Öffentlichkeit führt. Die Strukturen der Plattformen zeigen hierbei negative wie positive Effekte hinsichtlich Niedharts demokratietheoretischen Funktionen der Transparenz, der Validierung und der Orientierung.
Positive Auswirkungen auf die #Transparenzfunktion zeigen sich in einem allgemein leichteren Zugang an Informationen. Auch die Diversität des Informationsangebotes hat sich insgesamt erhöht. Eingeschränkt wird diese jedoch durch die uneinsehbaren Entscheidungsprozesse von Algorithmen, welche entgegen der generellen Offenheit gegenüber aller Themen und Meinungen nur bestimmte personalisierte Inhalte anbieten.
Gleichzeitig sorgt ein generelles Überangebot von Informationen aber auch für eine größere Unübersichtlichkeit und somit zu einem negativen Effekt auf die #Orientierungsfunktion.
Die Menge an Informationen führt zu einem höheren Aufwand für Rezipient:innen und Medienschaffende, um sich in der Informationslandschaft zu orientieren und somit zum Beispiel auch Desinformation zu identifizieren.
Auch hinsichtlich der #Validierungsfunktion lassen sich ambivalente Effekte beobachten. Das Internet verfügt nicht nur über Technologien, die wie auch frühere Massenmedien nach dem Sender-Empfänger-Prinzip funktionieren, sondern ermöglicht über soziale Netzwerke eine „Many-to-Many-Kommunikation“, in der jeder gleichermaßen Sender und Empfänger ist. Diese Technologie, die im ersten Gedankengang zu mehr Partizipation, Demokratie und Gleichberechtigung führen müsste, stellt sich allerdings als gegenteilig heraus.
Die Architekt:innen dieser Kommunikationsräume, welche die Regeln von digitaler Öffentlichkeit festlegen, handeln einzig nach ökonomischen Interessen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass erstens möglichst viele Daten über die Nutzer:innen erfasst werden, zweitens auf Basis dessen möglichst zielgruppengerechte Werbung geschaltet werden kann und drittens die Nutzer:innen möglichst lange auf deren Plattformen verweilen sollen, um so mehr Daten erfassen zu können und mehr Werbung zu schalten.
Aus diesem Geschäftsmodell ist eine Infrastruktur von sozialen Netzwerken entstanden, die zu einer Zersplitterung der Gesellschaft in Teilöffentlichkeiten führt.
Gründe hierfür liegen in der Bildung von Echokammern, also der Vernetzung von Gleichgesinnten und in der die Bildung von Filterblasen durch Algorithmen, welche die Rezeptionsgewohnheiten der Nutzer:innen bestätigen.
Eine #Fragmentierung der Öffentlichkeit unterbindet Dissens und ein argumentativer Austausch zwischen Akteur:innen verschiedener Standpunkte kann nicht mehr stattfinden. Die Funktion der Validierung von politischer Öffentlichkeit, indem dem besseren Argument nach rationalen Gesichtspunkten zugestimmt wird, ist hier also gestört. #Teilöffentlichkeiten können durch eine gestörte Orientierung und Validierung so zu völlig unterschiedlichen Weltansichten gelangen.
»Geht man […] davon aus, dass (zumindest) der größte Teil der Bürger eines Gemeinwesens einen Grundstock gemeinsamer Wahrnehmungen und Erfahrungen teilen sollte, offenbart sich die Schwierigkeit, die hier auftritt, wenn gesellschaftliche Probleme identifiziert und nach Relevanz und Lösbarkeit geordnet werden sollen.«[7]
Die digitale Öffentlichkeit ist also geprägt von Problemen der mangelnden Transparenz von technischen Entscheidungsprozessen, der Orientierung im Überangebot der Medien, der Validierung von Informationen und der daraus folgenden Fragmentierung in Teilöffentlichkeiten, welche den Diskurs behindern.
Krise der Demokratien?
Der Democracy Index ist ein von der englischen Zeitschrift The Economist berechneter Index, der seit 2006 den Grad der Demokratie in 167 Ländern misst. Anhand der Bewertung der Wahlprozesse, des Pluralismus, der Bürgerrechte, der politischen Teilhabe, der politischen Kultur und der Funktionsfähigkeit der Regierungen wird die Qualität demokratischer Verhältnisse gemessen.
Die Länder können so in vier verschiedenen Regimetypen unterteilt werden: vollständige Demokratien, fehlerhafte Demokratien, hybride Regime und autoritäre Regime. Deutschland befindet sich im Jahr 2021 auf Platz 15 von insgesamt 21 Ländern, die als vollständige Demokratien anerkannt werden. Die ersten sieben Plätze werden von westeuropäischen Ländern, insbesondere von nördlichen Ländern belegt.
Osteuropa verzeichnete als Region seit Beginn der Erhebung eine der schlechtesten Entwicklungen, wobei auch einzelne Aufwärtstrends wie etwa durch die Republik Moldau, Montenegro und Nordmazedonien zu sehen sind, die sich von hybriden Regimen hin zu fehlerhaften Demokratien entwickeln konnten.
Die größten Einbrüche seit Erfassung des Index zeigten sich jedoch im vergangenen Jahr in der Region Lateinamerika. Allein im letzten Jahr wurden fünf Länder des Gebiets in ihrem Regimetyp herabgestuft. Die dramatischsten Entwicklungen des vergangenen Jahres zeichneten sich in den Kriegsschauplätzen Afghanistan und Myanmar ab, welche nun noch hinter Nordkorea auf die letzten zwei Plätze gefallen sind.
Auch das autokratische Regime Russland sank in seiner Bewertung weiter ab, aufgrund von härteren Einschränkungen gegenüber oppositionelle Bewegungen und medialer Berichterstattung. Ebenso befindet sich China als autokratisches Regime seit Beginn in einem stetigen Abwärtstrend auf der Skala.
Die vergangenen zwei Jahre der Pandemie haben die Widerstandsfähigkeit von Demokratien auf die Probe gestellt. Der Durchschnitt des globalen Werts zwischen den Jahren 2020 und 2021 sank von 5,37 auf 5,28, was einem größeren Rückgang entspricht als dem im Vorjahr, welcher schon als Rekord in die Historie einging. [8]
Im Verlauf der Erhebung des Index zwischen den Jahren 2008 und 2021 lässt sich in der globalen Ansicht unter Berücksichtigung aller Länder ein allgemeiner #Abwärtstrend von demokratischen Verhältissen beobachten.
Ob wie anfangs erwähnt von einer allgemeinen Krise der Demokratie gesprochen werden kann, bleibt fraglich. Die Situationen entwickeln sich in verschiedenen Ländern und Regionen zu unterschiedlich. Viele Länder erleben jedoch dramatische Krisen mit klar lokalisierbaren Problemen ihrer Demokratien. Und auch der globale Trend ist eindeutig.
Insbesondere die vergangenen zwei Jahre haben durch die Pandemie zu einer generellen Zuspitzung der bestehenden Probleme geführt. Darunter war auch die Verbreitung von Desinformation, die zu großen Teilen im Netz stattfindet, ein wesentlicher Faktor. Die Frage nach einer Krise der Demokratie erscheint absolut verhältnismäßig und insbesondere eine Frage der Perspektive und des Maßstabs zu sein.
Desinformation zur Bundestagswahl 2021
Schon vor Beginn des Wahlkampfes war klar, dass die Wahl des Bundestages 2021 vor besonderen Herausforderungen stehen wird. Die bereits emotional angespannte Situation, durch die seit über einem Jahr anhaltende Corona-Pandemie, wurde von Beginn an mit Wellen von Falschnachrichten und Desinformationskampagnen begleitet.
Die WHO spricht schon im Februar 2020 von den Gefahren von Fake News, die sich schneller als jedes Virus verbreiteten und genauso gefährlich seien.
Die Falschnachrichten richteten sich nicht nur allein gegen gesundheitliche Maßnahmen und wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern vor allem auch gegen Politiker:innen und Parteien in Form von Hass und Hetze. Welchen Einfluss Desinformationen auf die Bundestagswahl haben würden, konnten Expert:innen angesichts der dynamischen Lage um die Pandemie schwer vorhersagen.
Auf der Internetseite der Bundeswahlleiter werden einige der zur Bundestagswahl 2021 verbreiteten Falschnachrichten im Nachhinein richtiggestellt. Dazu gehören unter anderen Meldungen über die Ungültigkeit des Wahlgesetzes, 3G-Regeln in Wahlgebäuden, Unsicherheiten bei Briefwahlen oder Unsicherheiten bei Wahlurnen. [12]
Die meiste #Desinformation im Netz richtete sich jedoch gezielt gegen bestimmte Parteien. Ihnen stellten sich Kanäle entgegen, die sich ausschließlich mit der Diffamierung der Parteien befassten, wie zum Beispiel der Instagram-Account Gegen die Grünen, der Anfang September mehr als 91.000 Follower:innen zählte, oder auch die Telegram-Gruppe Die Zerstörung der CDU, in Anspielung auf das von YouTuber @Rezo veröffentlichte gleichnamige Video.
Insbesondere die Partei Die Grünen und Kandidatin @Annalena Baerbock gerieten unter massive Angriffe. Dazu zählten etwa Falschnachrichten über die Abschaffung der Witwenrente, ein angebliches Haustierverbot, falsche Bachelor-Plagiatsvorwürfe, Pädophilie-Vorwürfe oder gefälschte Nacktbilder. Hinzu kommt die Plakatkampagne Grüner Mist, die an mehr als 3.500 Orten gefälschte Wahlplakate klebte, um die Grünen mit totalitären und sozialistischen Inhalten in Verbindung zu bringen. [14]
Auch wenn es sich hierbei nicht um eine digitale Kampagne handelt, wird die Dynamik und Vernetzung in den sozialen Netzwerken sicherlich zur Mobilmachung einer Aktion dieser Größe beigetragen haben.
Auf der Plattform TikTok wurden zudem irreführende Nachrichten durch Accounts verbreitet, die sich als offizielle Regierungsseiten ausgaben. Der gefälschte TikTok-Account derbundestag mit rund 14.000 Follower:innen und 130.000 Likes veröffentlichte politische Beiträge, in denen vor allem AFD-Politiker:innen prominent gefeatured wurden. [15]
[15] Vgl. www.netzpolitik.org, Thomas Rudl: TikTok unternimmt zu wenig gegen politische Desinformation
Da es in Deutschland keine zentrale Stelle für das Erkennen und Richtigstellen von Desinformationen gibt, liegt die Zuständigkeit für die Inhalte in sozialen Netzwerken allein bei den Anbieter:innen selbst. Diese können seit der Einführung des Medienstaatsvertrags im November 2020 unter der Aufsicht der Landesmedienanstalten zwar auf ihre journalistische Sorgfaltspflichten überprüft werden, jedoch wird hier im Sinne der #Meinungsfreiheit nicht darüber entschieden, was wahr oder unwahr ist.
So müssen die Parteien in aller Regel selbst aktiv werden, um Desinformation richtigzustellen oder um Angriffen gegen ihre Kandidat:innen entgegenzuwirken. Dem digitalen Wahlkampf wurde eine noch nie dagewesene Wichtigkeit zugesprochen und sicherlich wurden hier hohe Summen investiert.
Da die Kanäle in den sozialen Netzwerken aber in erster Linie nur die eigenen Follower:innen erreichen, kann gerade bei den Bürger:innen keine Richtigstellung erfolgen, bei denen es wirklich relevant wäre.
Regulation durch Plattformen
Auch einige Plattformen haben im Zuge der Corona-Pandemie begonnen, aktiv gegen Desinformation vorzugehen. Twitter untersagt die Verbreitung von irreführenden Informationen über Covid-19 durch die eigene Policy und blockiert entsprechende Nachrichten oder Accounts.
Auch Facebook berichtet über ein ähnliches Vorgehen. Auf Facebook und YouTube werden zudem Beiträge, die sich mit der Thematik des Coronavirus befassen, automatisiert mit einem Link zu gesicherten Informationen zum Virus und entsprechenden Schutzmaßnahmen versehen.
In Einzelfällen kam es auch zu politisch motivierten Einschränkungen durch soziale Netzwerke. Ein besonderes Aufsehen erweckte Twitter zur Präsidentschaftswahl 2020 mit einer dauerhaften Sperre des Accounts von US-Präsident @Donald Trump.
Dieser blockierte die #Amtsübergabe an seinen Nachfolger @Joe Biden, stachelte seine Anhänger:innen in einer Rede zu gewalttätigen Ausschreitungen an und bewegte sie zum Sturm auf das Kapitol. Auch Facebook und Instagram reagierten daraufhin mit einer Sperre gegenüber Trump.
Bereits im Oktober 2018 verpflichteten sich Facebook, Google und Twitter gegenüber der EU-Kommission aktiv gegen die Verbreitung von Desinformation vorzugehen. Der sogenannte Code of Practice on disinformation (CoP) definiert die umzusetzenden Maßnahmen. Es handelt sich hierbei allerdings um eine freiwillige Zusage der Unternehmen, welche „selbstregulierend“ handeln können.
Eine #Überprüfung der Maßnahmen zeigte jedoch erhebliche Mängel. Die Untersuchung der Werbeplatzierungen zeigte, dass „monetized content“ häufig fälschlich als „News“ präsentiert wird. Auch wurden zahlreiche Fälle von desinformierenden Inhalten sichtbar, die in den Google-Anzeigen geschaltet wurden.
Insgesamt muss sich in der Kennzeichnung von Anzeigen, auch in Bezug auf politischer Werbung, einiges verbessern, um die Nutzer:innen zu befähigen sich auf den Plattformen gesichert zu informieren. Nach Beurteilung der Landesanstalt für Medien kommen die Plattformen ihren eigenen Zusicherungen nicht in erforderlichem Maße nach. Das zur Verfügung gestellte Datenmaterial sei nicht ausreichend und nicht valide überprüfbar. [16]
Das von der EU-Kommission vorgeschlagene Gesetz über digitale Dienste könnte hier neue klarere #Regeln schaffen. Das Gesetz soll für eine strengere Beaufsichtigung insbesondere der sehr großen Plattformen sorgen, das Entfernen illegaler Inhalte erleichtern und die Grundrechte der Nutzer:innen schützen.
Die Unternehmen werden verpflichtet den Zugang zu Daten über die Funktionsweise der Plattformen für Forschungszwecke bereitzustellen, Algorithmen offenzulegen und klare Regeln und Verpflichtungen für Gatekeeper zu etablieren. [17] In Verbindung mit dem Regelwerk des CoP sollen die Plattformen jetzt in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission einen neuen gesetzlich verpflichtenden Rahmen schaffen, um so Desinformation entgegenzuwirken.